Diesen Blog haben wir im Juni 2019 geschrieben. Seitdem hat sich die Situation im Kandidatenmarkt weiter verschärft. Der Blog ist auch in 2024 aktueller denn je. Nutzen Sie den Blog zur Diskussion mit Ihrem Recruiting- oder Active Sourcing-Team und als Qualifizierung Ihrer Fachbereiche für ein zeitgemäßes Mindset im Gewinnen von Mitarbeitenden!
Worum geht es mir?
Nahezu alle Unternehmen haben enorme Schwierigkeiten, ihre Personal-"Beschaffung“ erfolgreich zu gestalten. Es heißt dann immer, es gäbe keine Bewerber mehr. Das ist insofern richtig, als sich viele Kandidatengruppen nicht mehr bewerben müssen – sie wählen eher aus den verschiedenen ihnen möglichen Jobangeboten aus. In 2024 gibt es zwar wegen der flauen Konjunktur hier eine gewisse Delle, aber mit dem ersten kleinen wirtschaftlichen Aufschwung in 2025 wird diese Situation der vergangenen Jahre rasch wieder aufpoppen.
"Es gibt keine Bewerber mehr" - nun, die Zahl der Erwerbstätigen im deutschen Arbeitsmarkt ist in den vergangenen Jahren enorm angewachsen! Gegenüber 2006 (mit knapp 38,5 Millionen zur Verfügung stehenden Erwerbstätigen) ist diese Zahl in 2023 auf knapp 46 Millionen angewachsen. Die enorme Größe dieses Anstiegs versteht man besser, wenn man sich klar macht, dass der Zuwachs um 7,5 Millionen Erwerbstätige dem 1,5-fachen des GESAMTEN Arbeitsmarktes eines ganzen Landes wie Österreich (4,4 Mill. in 2022) entspricht. Gleichzeitig hat die Jobfluktuation zugenommen und lag bei der Hauptzielgruppe der 25-55-Jährigen in 2018 bereits bei etwa 30%. (Institut der Wirtschaft, 30.08.2018). Während Covid ist sie leicht zurückgegangen, derzeit in 2023 aber wieder bei 20-30% Das heißt: derzeit wechseln pro Jahr etwa 11 Millionen Angestellte Ihren Job. Dies stellt in der Summe ein erhebliches Reservoir von Fachkräften dar, die gewonnen werden KÖNNEN.
Der gesättigte Kandidatenmarkt
Früher hat man seine offene Vakanz auf den Markt getragen, und die Bewerber standen Schlange. Diese verkauften ihre Arbeitskraft gegen das Gehalt. Das Unternehmen traf die Auswahl. Der Bewerbermarkt war in der Tat ein Einkaufsprozess – eben Beschaffung. Das war aber einmal. Der heutige Kandidatenmarkt stellt diese Erfahrungen auf den Kopf. Das Unternehmen muss sich selbst und seine Vakanz möglichst attraktiv vermarkten. Der Kandidatenmarkt ist als gesättigter Markt zu verstehen. Jeder Kandidat hat bereits einen guten Job und erhält gleichzeitig viele Jobangebote „zum Kauf“, zwischen denen er wählen kann. Unternehmen müssen Ihre Vakanzen also in einem gesättigten Markt verkaufen.
Diese Ausgangslage des gesättigten Marktes stellt trotzdem kein unüberwindbares Hindernis dar. Solches ist Unternehmen aus dem Vertrieb hinlänglich bekannt. Die Märkte in Europa sind oft gesättigte Verdrängungsmärkte. Hier werden im Wettbewerb innovative Produkte mit präzisen Nutzenargumenten sorgsam definierten Zielgruppen angeboten, sonst würde man auf seinem Produkt sitzenbleiben. Guter Service, Kundennähe, ein gutes Produkt zu einem passenden Preis für eine spezifische Zielgruppe sind die Erfolgsfaktoren. Wer das im Vertrieb beherrscht, ist erfolgreich, die anderen verkaufen nichts.
Das falsche Mindset der Personal-"Beschaffung"
Unternehmen definieren ihre Personalbeschaffung immer noch als Einkaufsprozess. Eigentlich aber ist Recruiting heute eher ein Vertriebsprozess. Wo liegt der wichtigste Unterschied? Wer im Einkaufs-Mindset ist, versucht die Hoheit über den Entscheidungsprozess zu behalten, indem er möglichst viele Kandidaten parallel anspricht. Er glaubt, dann aus der Vielzahl nach eigenen Kriterien auswählen und entscheiden zu können. Dabei wird übersehen, dass die Kandidaten selbst immer auch mehrere Optionen vorliegen haben und ihrerseits das beste Angebot wählen können. Mehr Kandidaten zu haben, für welche das eigene einstellende Unternehmen ja immer nur eine von mehreren Möglichkeiten darstellt, sorgt nicht für sichere Einstellungen. Im Gegenteil: Immer häufiger hören wir von Unternehmen, dass Kandidaten im letzten Augenblick abspringen oder es wird sogar komplettes Ghosting erlitten, obwohl man schon sicher war, den oder die neue Mitarbeiter/in gefunden zu haben.
Erfolgreiches Recruiting ist der Vertrieb von “sinnstiftender Betätigung”
Auch wir als Executive Search-Personalberatung haben umdenken müssen. Heute glauben wir, dass es ehrlicher und zielführender ist, modernes Recruiting als Vertriebsprozess in einem Verdrängungsmarkt zu definieren. Unternehmen müssen nicht mehr nur Gehalt als Broterwerb bieten, Sie müssen auch ein gutes Stück sinnstiftende Betätigung gemeinsam mit Gleichgesinnten, dabei hohe Freiheitsgrade und Selbsterfüllung in der fachlichen Challenge anbieten inklusive eines für beide Seiten passenden New Work. Nur das in Kombination schafft genug Attraktivität für die “Sinn- und Kultursucher” (= Bewerber) von heute, die längst nicht mehr “Arbeitssuchende” sind.
Jede Vakanz muss individuell an ihre Zielgruppe “vertrieben” werden
Im Verdrängungsmarkt müssen Unternehmen lernen, ihre Vakanzen so zu verkaufen, wie es der Vertrieb macht. Dazu ist zum einen ein starker Unternehmens-Brand wichtig. Jede Vakanz muss aber auch individuell vertrieben werden! Unternehmen müssen den USP der Aufgabe und die mit ihr angebotene Sinnstiftung für die exakte Zielgruppe herausarbeiten. Und sie müssen den Nutzen herausarbeiten, den sie dem Kandidaten / der Kandidatin bieten.
Kultur gewinnt
Als Executive Search stehen wir selbst vor der anspruchsvollen Aufgabe, sehr geeignete Leadership-Persönlichkeiten für den Kunden zu finden. Unser Haupthebel, um Menschen für einen Wechsel zu interessieren, ist dabei ganz klar die Kultur des Unternehmens, die Attraktivität der Vakanz und die mit der Position in der Regel auch verbundene konkrete Transformationsaufgabe. Wir sind also auch Verkäufer. Wir identifizieren - wie Marketing und Vertrieb - den USP der Vakanz und stellen diesen der passenden Käufer-Zielgruppe vor. Dann prüfen wir, welcher Kandidat durch diese Vakanz genügend nachvollziehbaren Nutzen hat. Aus dieser so definierten Personengruppe heraus wird es dann möglich, die Position nachhaltig zu besetzen.
Recruiter werden Job-Botschafter
Das Recruiting entwickelt sich immer mehr zum „Job-Botschafter“, der das Einzigartige der Vakanz herausgearbeitet hat und diese nachvollziehbar formulieren kann. Dann gilt es, die passende Zielgruppe zu definieren, sie aufzufinden und den USP der Vakanz den potentiellen Kandidaten mit Authentizität und Begeisterung vorzutragen.
Active Selling löst Active Sourcing ab
Mit modernem Employer Branding und Hochschulmarketing können gute Unternehmenskulturen bei der homogenen Gruppe der Berufseinsteiger punkten. Active Sourcing für die Berufserfahrenen wird aus unserer Sicht zu einseitig als Identifizierung und nicht als “Gewinnung” von Kandidaten verstanden. Die zentrale Bedeutung der Beratung der beiden Kundenzielgruppen im Recruiting – Fachbereich und Kandidaten-Zielgruppe – wird ebenfalls zu wenig berücksichtigt.
Für die zunehmend individualisierten Profile berufserfahrener Experten werden in Zukunft glaubwürdige Job-Botschafter im Recruiting nötig sein. Unternehmen können dies allerdings nur in Teilen selbst leisten. Active Selling ist sehr hochwertig und aufwändig. Da es um den Vertrieb von Sinnstiftung geht, sind selbstverständlich im Recruiting auch Persönlichkeiten nötig, die sich als „Vertriebs-Mitarbeiter" mit entsprechenden Skills und Methoden verstehen.
In allem liegt eine große Chance für HR, sowohl als Begleiter von Transformation rund um die Vakanz wie auch gleichzeitig als Sinnbotschafter des Unternehmens einen sehr wichtigen Wertbeitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten.
(Johannes Terhalle, 06.2019)