Unternehmenskultur und die Kraft von "Werten" illustriert an einem überraschenden aber sehr prägnanten Beispiel

Unternehmenskultur und Werte illustriert an einem überraschenden Beispiel

Bereits in den neunziger Jahren hat der amerikanische Management-Vordenker James Champy auf die Bedeutung der Werte für den Erfolg eines Unternehmens hingewiesen. (»Wer seinen Mitarbeitern mehr Verantwortung geben will und damit Abschied von Kontrolle und Autorität nimmt, der muss wissen, dass sie auch das Richtige tun. Und die einzige Garantie dafür sind nun einmal die gemeinsamen Werte in der Organisation […]« (James Champy, 1992). Das Thema „Werte“ wird tatsächlich immer wichtiger, damit sich Unternehmen in der globalen Ökonomie orientieren können. Die Bindungskraft gemeinsamer Werte - und der kommunikative Austausch über sie - ermöglichen in Unternehmen das zielgerichtetes Denken und Handeln.

Um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche außergewöhnlichen Ergebnisse auf der Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen möglich sind, richten wir den Blick auf ein ungewohntes, historisches Beispiel: das komplexe historische Bauwerk der „Wieskirche“ (UNESCO-Weltkulturerbe) von etwa 1750 in Süddeutschland.

Der Innenraum der Wieskirche überwältigt den Eintretenden durch die Vielfalt an Formen und Farben und das alles überstrahlende Licht. Diese Vielfalt ist keineswegs zufällig, sondern sehr kalkuliert und systematisch organisiert. Das Innere einer barocken Kirche sollte den Besucher emotional packen und in eine bestimmte Richtung beeinflussen.

Im Kirchenraum ist die Erscheinung des „Göttlichen“ ganz konkret im Gemälde im Kuppelbereich dargestellt. Das Göttliche ist damit zwar präsent, entzieht sich aber gleichwohl dem Zugriff des am Boden - im „irdischen“ Bereich des Gebäudes – stehenden Betrachters. Der theologische Gedanke dieser Raumgestaltung ist, dass man an der Verheißung des Göttlichen visuell teilnehmen kann. Gesteigert wird dies physisch, wenn man in der Messe am sakralen Abendmahl teilnimmt und dann nicht nur visuell, sondern körperlich und damit ganzheitlich beteiligt ist. Die gesamte dekorative Ausgestaltung eines barocken Kirchenraumes diente dazu, zum Besuch von Messe und Abendmahl aufzufordern.

Damit die imaginäre Himmelserscheinung als quasi im Innenraum stattfindendes Geschehen vorstellbar wurde, mussten der Raum unten und das Gewölbe oben miteinander verzahnt werden. Das architektonisch durch Pfeiler und Wand geprägte Unten und das malerisch dekorativ umspielte Oben sollten ineinander übergehen. Damit dieser Übergang fließend geschieht und Trennlinien vermieden werden, überkreuzen sich der obere und der untere Bereich in der Mittelzone des Raumes. Hier verwandelt sich Architektonisches nach oben hin zunehmend in Stuckdekoration und greift in die Kuppelausmalung ein. Gleichzeitig dringt das in der Kuppel gemalte „himmlische Personal“ aus dem Kuppelfresko in dreidimensionalen Stuckfiguren unten in den gebauten Raum ein. Dieses „Überkreuzprinzip“ ist entscheidend für die Gesamtwirkung und das theologische Konzept des barocken Kirchenraumes.

Der ovale Grundriss der Kirche selbst wirkt durch seine Kurvengestaltung bereits jeglicher Starre entgegen. Das den Raum „durchleuchtende“ Licht lässt zudem das materiell Schwere der Stützen und Pfeiler leicht erscheinen. Daran erkennt man, wie sehr hier Architektur, Skulptur, Dekoration und Malerei aufeinander bezogen sind. Und es wird klar, dass die verschiedenen Teile bewusst zu einem homogenen Ganzen zusammengesetzt wurden. Dieses Phänomen wird als „barockes Gesamtkunstwerk“ bezeichnet.

Welche sind die Organisationsprinzipien, die ein solches Kunstwerk gelingen lassen?

Der Bauherr suchte sich einen Architekten, der die Rahmenplanung vorgab. Der Architekt schloss Verträge mit überregionalen oder lokalen Subunternehmern. Diese waren jeweils Experten auf ihrem Gebiet – Meister verschiedener Gewerke, die jeweils mit Dutzenden von Mitarbeitern auf der Baustelle tätig wurden: Maurer, Steinmetze, Gipser, Stukkateure, Maler, Freskanten, Vergolder, Schreiner und Kunstschreiner, Bildhauer, Schmiede, Zimmerleute.

Um so ein komplexes Bauwerk wie die Wieskirche zu errichten und das gewollte Ineinandergreifen der vielen Expertenteams abzusichern, würde man heute ein vielköpfiges Baumanagement beschäftigen, das allen Beteiligten exakte Vorgaben macht und die Arbeitsprozesse laufend kontrolliert.
Bei der Wieskirche gab es aber kein aufwendiges Projektcontrolling! Der Architekt hatte lediglich ein paar Zeichengehilfen und einige Poliere, die den technischen Baubetrieb organisierten, während er selbst gleichzeitig auf anderen Baustellen tätig war. Das heißt, der Architekt musste die Ausführung weitestgehend an die Experten delegieren und konnte die gewollte Einheitlichkeit von Architektur und Ausstattung nur sehr allgemein vorgeben. Er war also auf das Mitdenken der selbstständig agierenden Künstler und Handwerksmeister angewiesen. Auf eine einheitliche Stilauffassung und Ausführung aller Beteiligten konnte sich der Architekt aber keineswegs verlassen. Eigentlich wäre es zu einer großen konzeptionellen Streuung gekommen und die konsequente Homogenität des Raumes nie erzielt worden. Es mußte also eine Klammer geben, damit sich alle auf ein gemeinsames Ziel ausrichteten!

Hier lassen sich fünf „klassische“ Kriterien identifizieren, die auch heute einen wichtigen Stellenwert für innovative Unternehmen haben:

1. Expertentum: Eine komplexe Aufgabe wurde nicht von einer großen Unternehmenseinheit realisiert, sondern durch das temporäre Zusammenwirken vieler sehr selbständig agierender Expertenteams.
2. Autonomie: Die einzelnen Expertenteams hatten innerhalb der generellen Richtung große Entscheidungsfreiheit. Sie konnten sich mit ihrer Kompetenz am Bauwerk selbst verwirklichen und dadurch als Experten mit eigenem Profil verstehen.
3. Respekt: Die Teams der vielen verschiedenen Gewerke mussten inhaltlich Hand in Hand arbeiten. Sie glichen sowohl die Arbeitsgeschwindigkeit als auch das Formenrepertoire, die Farben, Größen, Proportionen und vieles mehr miteinander ab. Sie sahen ihre Leistung durch das Können der anderen Experten multipliziert und waren entsprechend motiviert, selbst zu Höchstleistungen aufzulaufen.
4. Vision: Jede Handwerkertruppe wurde von der Begeisterung getragen, mit der eigenen Leistung etwas Besonderes zu einer großen Aufgabe beizutragen.
5. Gemeinsame Werte: Als fünfte und entscheidende Klammer ist das „Prinzip der gemeinsamen Werte“ zu nennen. Alles, was am Bau geleistet wurde, basierte letztlich auf einer gemeinsamen, übergeordneten Wertevorstellung der Beteiligten. Die Menschen waren religiös; sie hatten die gleiche Vorstellung von dem, was wichtig ist und Sinn stiftet.

Es zeigt sich, dass es das Wissen um die gemeinsamen Wertevorstellungen war, das es ermöglichte, Entscheidungen zu delegieren. Auf dieser Grundlage folgten die einzelnen Expertenteams einerseits der allgemeinen Zielvorgabe des Architekten, waren aber andererseits eigenständig und strebten selbst nach Optimierung und Innovation.

Die Werte waren also die Ausgangsbasis, auf der etwas gemeinsames Großartiges errichtet werden konnte.

Die Bedeutung von Werten für Wandel und Stabilität

Um im globalen Wettbewerb zu bestehen, müssen Unternehmen ebenfalls Großartiges leisten. Aber nicht nur das, sie müssen sich gleichzeitig kontinuierlich wandeln. Das ist eine Herausforderung, an der Firmen leicht scheitern können. Wenn man davon ausgeht, dass Wandel in Unternehmen nur dann gelingt, wenn dieser nicht gleichzeitig alle Arbeitsbereiche umfasst, sondern es auch Themen gibt, die stabil bleiben, dann sollten eben auch Unternehmen darauf achten für hinreichend Stabilitätsfaktoren zu sorgen.
„Wandel schafft Verunsicherung und lässt das Sicherheitsstreben zur dominanten Verhaltensweise werden.“ (Knut Bleicher). Der kontinuierliche Innovations- und Veränderungsdruck kann Mitarbeiter und Führungskräfte verunsichern, wenn sie ihre persönliche und soziale Identität zu einseitig aus Karriere, Position und Tätigkeit im Unternehmen beziehen. Sie müssen auch auf Werte außerhalb von Position und Tätigkeit zurückgreifen können.
Es muss außerdem gelingen deutlich zu machen, dass die eigenen Unternehmensprodukte oder -dienstleistungen in ein größeres Ganzes menschlicher Existenz eingebunden sind.  Dadurch wird für den einzelnen Mitarbeiter eine unmittelbare, sinnstiftende Verbindung zwischen den Unternehmenszielen und den eigenen Wertvorstellungen hergestellt. Das heißt, Stabilität wird außerhalb des Unternehmens in Wertvorstellungen verankert, um innerhalb des Unternehmens dauerhaften Wandel zu ermöglichen! Damit entsteht wirkliche Unternehmenskultur.

„Wandel“ stellt jedoch nicht einen Wert für sich dar, und dieser ergibt sich auch nicht allein aus Strukturveränderungen im Unternehmen. Änderungen sind ohne Nachhaltigkeit, wenn nicht gleichzeitig auch Sinnvermittlung angestrebt und ein Konzept zur „Identitätsstärkung“ der gestaltenden Mitarbeiter verfolgt wird. Das ist umso notwendiger, als im Zuge der materiellen Sättigung unserer Gesellschaft Ordnungssysteme wie „Religion“ als Klammer schwächer geworden sind.

Die barocke Großbaustelle funktionierte auf der Grundlage religiöser Seinsgewißheit. Dies ist heute kein verbindlicher Wert mehr. Was bleibt, sind allgemein christliche, humanitäre Werte und „Geschichte“ als Vergewisserung eines nicht chaotischen, sondern zielgerichteten  Entwicklungsprozesses unserer Gesellschaft.

Unternehmen können die Befähigung zum Wandel stärken, indem sie selbst Werte anbieten und in Werte und Stabilität unterstützende Ordnungssysteme investieren. Gerade die sogenannten „Hidden Champions“ besitzen dazu gute Voraussetzungen. Sie können an ihrem historisch gewachsenen Standort gezielt und engagiert regionale Verantwortung übernehmen – auch, um ein gemeinsames Wertesystem und damit eine Unternehmenskultur zu erhalten bzw. auszubauen.

Diesen Artikel habe ich kurz vor 2000 geschrieben, er wurde in der Mitarbeiterzeitschrift von Hewlett Packard veröffentlicht. Diese Firma war damals eines der erfolgreichsten Unternehmen. Das gilt nun nicht mehr im gleichen Maße. Die Wieskirche als Exmpel steht nach wie vor und dieser Artikel hat heute (2021) an Bedeutung eher noch gewonnen. - Johannes Terhalle

 

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