Immer wieder versuchen Autoren das moderne Recruiting über Bilder und Analogien zu erklären. Immer wieder werden dann Vergleiche zum Teamsport gezogen. Beispielsweise sind für eine funktionierende Mannschaft verschiedene Rollen und Charaktere wichtig wie Verteidiger / Stürmer, wie schnell & quirrlig oder kräftig & stabil. Das dient dann als Beispiel, wie auch Firmen als vitale Organisationen zu denken und zu strukturieren sind.
In einem aktuell publizierten Artikel wird das proaktive Recruiting einmal wieder mit dem Mannschaftssport - hier mit dem Fußball - verglichen. (Link: http://bit.ly/2pLFI2a)
Wenn ein Spieler in der Mannschaft ausfällt (hat sich im Spiel verletzt / Kündigung), startet man nicht erst die Suche, sondern verfügt über ein gepflegtes Talentnetzwerk, aus dem man rasch den Ersatz fischt und ins Spiel bringt. So die Idee.
Logisch: Proaktives Agieren ist wichtig. Und Nähe zu den Netzwerken, in denen sich die passenden Kandidaten aufhalten, ist auch unerlässlich.
Aber ist ein solches proaktives Netzwerken in Unternehmen realistisch unter den gegebenen Bedingungen genau dieser Unternehmen?
Im Fußball gibt es nur 11 Positionen, eine Mannschaft hat zwischen 22 und knapp 30 Spieler, jede Position ist idealerweise mehrfach besetzt. Dann gibt es noch die Reserve der Reserve (die 2. Mannschaft und die Jugendmannschaft), aber hier liegen nur Notlösungen.
Und wie sind Unternehmen organisiert?
Ein mittelständisches Unternehmen hat etwa 500 Mitarbeiter und diese arbeiten auch noch an verschiedenen Standorten. Es agiert in zig Disziplinen von Entwicklung bis After Market, hat Persönlichkeiten wie Charismatiker, Zielfokusierte, Präzise in den einzelnen Teams, hat jüngere, mittelalte und sehr erfahrene Mitarbeiter, hat Experten und Führungskräfte, usw.
Sollen alle vorhandenen Facetten durch proaktives Recruiting und ein aktives Talentmanagement abgedeckt werden? Schön, aber naiv.
Außerdem liegt das Problem an ganz anderem Ort:
Es geht ja nicht darum, Kandidaten nur zu „kennen“ oder über Mittel zu verfügen, diese rasch zu identifizieren (Big Data, usw.). Es geht darum, sie "zu gewinnen". Und das ist ein anderes Paar Schuh. Früher war das Identifizieren das Problem. Tatsächlich hat sich dies mittlerweile durch zusätzliche neue Mittel wie Social Media-Ansätze oder digitale Möglichkeiten vereinfacht. Dafür aber hat sich der Markt gedreht. Die Entscheider sind nun die Kandidaten – zumindest in den technischen Berufen, und auch schon ein Stückchen darüber hinaus.
Es hilft nun nicht mehr, fachlich passende Kandidaten identifizieren zu können. Das Unternehmen muss sie systematisch gewinnen können. Das funktioniert aber kaum über die fachlichen Kriterien des einzelnen Jobs, sondern über Argumente, die aus der Unternehmenskultur gewonnen werden.
Letztlich muss hier eine erfolgreiche Suche in der Untergruppe "kulturell Passende / Interssierte" der Übergruppe "fachliche Passung" vorgenommen werden. Und dieses Vorgehen hat auf jede einzelne Position, jeden einzelnen Standort, jede Funktion im Unternehmen zu geschehen. „Ganz letztlich“ ist dies proaktives Kandidaten-Coaching.
Das neue HR:
Und tatsächlich wird sich die Rolle von HR ein Stück dorthin verschieben, um in der Personalbeschaffung wieder handlungsfähig zu werden – neben den neuen Headhuntern, die kulturorientiertes Recruting bereits höchst erfolgreich vormachen. Dazu muss HR in den Unternehmen allerdings auch entsprechend budgetiert und gewichtet werden, um dies quantitativ und qualitativ zu realisieren.